Interdisziplinäre Schmerztherapie an der Universität Greifswald

Konzept der Tagesklinik für Schmerztherapie

Die Häufigkeit behandlungsbedürftiger chronischer Schmerzen wird in der Bundesrepublik Deutschland auf 6-10 % der Bevölkerung geschätzt. Etwa 10 % dieser Patienten benötigen eine spezielle schmerztherapeutische Behandlung.

Der chronische Schmerz hat typischerweise keine Warnfunktion und hat einen eigenständigen Krankheitswert mit hohem Behandlungsbedarf.

Die Genese und Aufrechterhaltung der meisten chronischen Schmerzsyndrome ist weder monokausal somatisch noch monokausal psychologisch, sondern multifaktoriell. Entsprechend dem bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell des chronischen Schmerzes spielen Lernprozesse und soziale Interaktionen eine große Rolle bei der Chronifizierung. Erfolgreiche multimodale Konzepte setzen an diesen Mechanismen an.

 

International konnten randomisierte kontrollierte Studien und Reviews die Effektivität multimodaler Therapieprogramme zur Behandlung chronischer Schmerzsyndrome auch im Langzeitverlauf eindeutig belegen. Dabei haben sich Therapieprogramme mit einem Umfang von mindestens 100 Stunden gegenüber monodisziplinären Behandlungen hinsichtlich der Schmerzreduktion und Funktionalität als überlegen erwiesen, wobei hingegen weniger intensive Behandlungen keinen Vorteil aufwiesen.

 

Unser interdisziplinäres Schmerzbewältigungsprogramm basiert auf einem modularisierten und wissenschaftlich evaluierten Manual (Marburger Schmerzbewältigungsprogramm zur Gruppen- und Einzeltherapie), das von Prof. Basler und Prof. Kröner-Herwig in einem von der Deutschen Forschungs Gemeinschaft geförderten Projekt erstellt worden ist.

 

Ergebnisse aus deutschen schmerztherapeutischen Tageskliniken zeigen stabile Behandlungsergebnisse hinsichtlich Verbesserung der Schmerzintensität, der verringerten Einschränkungen durch die Schmerzen, verbesserte Vitalität, verminderte Depressivität und dysfunktionale Kognition. In strukturstarken Regionen konnte eine back to work Rate von über 60% erzielt werden.

In europäischen und US-amerikanischen Practice Guidelines zur Behandlung chronischer Rückenschmerzen sowie in der Neuen Versorgungsleitlinie zum unspezifischen Kreuzschmerz werden multimodale und interdisziplinäre Therapieprogramme empfohlen.

Außerdem wurde für Patienten mit hoher Beeinträchtigung eine Kosteneffektivität der Therapieprogramme nachgewiesen. Das Patientengut in unserer Abteilung zeigt zu 95% Chronifizierungsgrad III nach Gerbershagen und ist vergleichbar mit den dort beschriebenen Patienten.

 

Screening

vor tagesklinischer Therapie mit einem Stundenumfang von mindestens 4 -6h:

 

Vor der multimodalen schmerztherapeutischen Behandlung wird eine multidisziplinäre algesiologische Diagnostik unter Mitarbeit von mindestens 3 Fachdisziplinen (ärztlich, psychologisch und physiotherapeutisch) und abschließender Teambesprechung und Therapieplanung durchgeführt.

Sie ist mit einem hohen Zeitaufwand verbunden und beinhaltet auch das Informationsgespräch über die Inhalte des Therapieprogrammes, die Anforderung von Fremdbefunden, die Erstellung einer Epikrise und schriftlichen Information des Patienten.

Da die multimodale Schmerztherapie ohne die Bereitschaft des Patienten zur aktiven Verhaltensänderung und der Bereitschaft zu körperlicher und psychosozialer Veränderung nur geringe Erfolgsaussichten hat, ist es notwendig die Motivationslage zu erfassen.

Durch die Integration der Befunde aus der Anamnese, der medizinisch-körperlichen Untersuchung und der psychologischen Untersuchung und anschließender interdisziplinärer Besprechung und Therapieplanung ist es erst möglich, die Patienten der geeigneten Therapieform zuzuführen.

Durch diese Vorgehensweise wird ein ressoucenorientiertes Arbeiten angestrebt.

 

Therapie (4-wöchig)

mit einem Stundenumfang von insgesamt 120h (30h pro Woche):

 

Das Behandlungskonzept setzt sich aus Bausteinen folgender Berufsgruppen zusammen: Arzt, Psychologe, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Musiktherapeuten.

 

Den ärztlichen Kollegen kommt die Leitung und Koordination der Behandlung zu.

In den ärztlichen Gruppengesprächen (Patientenedukation) wird über die Schmerzerkrankung, Chronifizierungsfaktoren und vorwiegend medikamentöse Behandlungsstrategien informiert.

Nur informierte Patienten sind in der Lage, motiviert und aktiv am Therapieprogramm teilzunehmen. Deshalb sollen die Patienten im Rahmen der tagesklinischen Behandlung Informationen über die Schmerzerkrankung, Aufbau und Möglichkeiten der Behandlngsprogramme erhalten. Ziel dieser Patientenedukation ist es, schmerzbezogene Ängste abzubauen, realistische Behandlungsziele zu formulieren und eine Veränderungsmotivation im Umgang mit der Erkrankung zu entwickeln.

In den ärztlichen Einzelgesprächen steht die Optimierung der medikamentösen Therapie im Vordergrund. Die Pharmakotherapie angepasst an Krankheitsbild und mögliche Komorbiditäten und ggf. Medikamentenentzugsbehandlungen sind Themen dieser Visiten. Der Patient bekommt Gelegenheit individuelle Fragen zu seiner Schmerzerkrankung zu stellen.

 

Die schmerzpsychologische Gruppentherapie beinhaltet ein etabliertes Schmerzbewältigungspogramm mit lösungsorientiertem Ansatz (Basler/Kröner-Herwig, insgesamt 28 Stunden, d.h. 7 h/wöchentlich).

Inhalte des Schmerzbewältigungstrainings sind:

  • Die Erarbeitung eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses
  • Informationsvermittlung zur Schmerzwahrnehmung und –chronifizierung
  • Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Muskelanspannung und Schmerz
  • Erlernen des Entspannungsverfahrens PMR und von Imaginationsübungen, Anleitung zur Übung in der Häuslichkeit
  • Einfluss von Gedanken und Gefühlen auf Körper und Verhalten, einschl. der Arbeit an der Identifizierung und Umbewertung negativer Gedanken
  • Auslöser und Verstärker von Schmerz
  • Äußere und innere Ablenkung (Aktivitätsaufbau, Genusstraining, Phantasiereisen)
  • Problemlösetraining
  • Rückfallprophylaxe („Notfallkoffer“)

 

Neben dem Schmerzbewältigungstraining, das in Gruppen durchgeführt wird, werden psychologische Einzelgespräche angeboten, um individuelle Problemstellungen und Chronifizierungsfaktoren zu besprechen, Hilfe zur eigenständigen Problembewältigung und Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen zu geben. Auch der Umgang mit Symptomen im Rahmen von Komorbiditäten / Begleiterkrankungen wie Depression oder Angststörungen (z.B. Grübeln, Vermeidung) kann thematisiert werden.

 

Die körperlich übenden Programme wie z.B. Walking gehen vom aktuellen Leistungsniveau von jeden einzelnen Patienten aus und haben eine Steigerung der körperlichen Aktivität durch Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Koordination, Gleichgewicht und Beweglichkeit zum Ziel.

 

In der Ergotherapie lernen die Patienten maladaptives Verhalten im Alltag zu erkennen. Sie werden auf Schonhaltungen hingewiesen, und lernen wieder zwischen Über- und Unterforderung zu unterscheiden.

Wichtiges Ziel ist das Erkennen von eigenen Grenzen.

Durch das Erleben von Selbstwirksamkeit bei der Arbeit mit den Materialien wird Depressivität abgebaut und Freude erlebt.

 

Bei der Musiktherapie wird gezielt Musik eingesetzt, mit dem Ziel, über die Musik einen Zugang zum Patienten zu finden und diesen therapeutisch zu nutzen. Eine Studie der Fakultät für Musiktherapie der Fachhochschule Heidelberg und dem dort angesiedelten Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung hat gezeigt, dass Musiktherapie sehr erfolgreich gegen chronische Schmerzen eingesetzt werden kann.

Die Musiktherapie bietet eine wirkungsvolle Ergänzung zur ganzheitlichen Schmerztherapie. Musik ermöglicht Zugang zu jedem Menschen, deshalb hat die Musiktherapie ein sehr breites

Therapiespektrum: Neben der Schmerztherapie wird sie sehr erfolgreich zur Behandlung von Tinnitus eingesetzt u.a. hilft sie auch bei Kopfschmerzen und Migräne.

 

Während der multimodalen tagesklinischen Schmerzbehandlung finden regelmäßig Teamkonferenzen und Einzelvisiten statt, um die Betreuung zu optimieren und den Therapiefortschritt zu gewährleisten. Alle Teammitglieder begleiten den Patienten und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Dieser soll erkennen und verstehen, dass er im Mittelpunkt steht, auch im Mittelpunkt der Selbsthilfe.

 

Literatur:

Pöhlmann et al. (2009) Die Multimodale Schmerztherapie Dachau (MSD). Schmerz 23:40–46

 

Guzmán et al.(2002) Multidisziplinary bio-psycho-sozial rehabilitation for chronic low back pain, Cochrane Database of Systematic Reviews 2002, Issue 1

 

Arnold et al. (2009) Multimodale Schmerztherapie. Schmerz 23:112-120

 

Nagel et al. (2009) Multimodale Therapiedes Rückenschmerzes. Orthopäde 38:907–912

 

Schütze et al. (2009) Evaluation einer multimodalen Schmerztherapie am Universitäts¬Schmerz Centrum Dresden. Schmerz 23:609–617

 

www.versorgungsleitlinien.de

 

Zusammenfassung

Das ressourcenorientierte Behandlungskonzept hat als zentrales Behandlungsziel die Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit, die Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls der Betroffenen.

 

Behandlungsziele:

  • Linderung der chronischen Schmerzen
  • Optimierung der Schmerzmedikation
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Vermittlung eines angemessenen Verständnisses der chronischen Schmerzkrankheit
  • Abbau von fehlerhafter Anpassung an die chronische Schmerzkrankheit
  • Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit
  • Übertragung der Trainingserfolge in das Alltagsleben
  • Förderung von Aktivität und sozialer Integration
  • Wiedereingliederung in das Berufsleben
  • Vermeidung unnötiger Untersuchungen, Operationen usw.
  • Prävention weiterer Chronifizierung

Die Kriterien der ad hoc Kommission „Multimodale Interdisziplinäre Schmerztherapie“ der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes zu welchen unter anderem

  • die Interdizsiplinäre Abstimmung der Behandlungsinhalte
  • ein festgelegter Behandlungsplan
  • die Durchführung in Kleingruppen von max. 8 Patienten zählen,

werden in unserer Einrichtung erfüllt:

Die Qualität der Behandlung ist durch ein erfahrenes Team von Ärzten, Psychologen Physiotherapeuten, Ergotherapeutin, Musik- und Klangtherapeutin, Schwestern sowie durch adäquate Räumlichkeiten gewährleistet.

 

Behandlungskonzept

Unser Behandlungskonzept richtet sich an Patienten mit einer hochchronifizierten Schmerzerkrankung bei denen durch unimodale Therapien nur unzureichende Behandlungsergebnisse erzielt werden konnten, die eine manifeste oder drohende Beeinträchtigung der Lebensqualität und/oder der Arbeitsfähigkeit aufweisen, bei denen möglicherweise ein(e) bestehende(r) Medikamentenabhängigkeit oder –Fehlgebrauch besteht und psychische Begleiterkrankung schmerzunterhaltend wirken.

Die Patienten kommen mit einem 24-seitigen ausgefüllten Fragebogen und möglichst vollständigen Vorbefunden zur Screeninguntersuchung (1 Tag), nehmen bei Eignung an einem 4-wöchigem Therapieprogramm und einer 1-wöchigen Auffrischungswoche teil. Für Senioren wird das Programm aufgrund geringerer körperlicher Belastung über einen Zeitraum von 8 Wochen je 2x wöchentlich angeboten.