1900–1933


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Beginn des 20 Jahrhunderts und Weimarer Republik (1900-1933)

Nach Arndts Tod wurde 1901 Alexander Westphal (1863-1941) (Abb.4), der den zum Ende der 1890er Jahre zunehmend erkrankten Arndt im Jahr zuvor bereits vertreten hatte, zu seinem Nachfolger berufen. Neben den Geistes- und Nervenerkrankungen sollte er explizit auch die an Bedeutung gewinnende gerichtliche Psychiatrie vertreten [4]. Westphal war so unter anderem bereits ab 1902 als Sachverständiger maßgeblich in den Prozess gegen den vierfachen Kindermörder Ludwig Tessnow involviert, der in der Region viel Aufsehen erregte [14].

 

Abb. 4: Alexander Westphal

Westphal bemühte sich umgehend, die naturwissenschaftliche Forschungsmethode fest zu etablieren, indem er unter anderem ein Laboratorium zum Mikroskopieren einrichtete [5]. Sein Augenmerk galt zudem der Reorganisation des psychiatrischen Unterrichts – inzwischen war die Psychiatrie 1901 innerhalb des ärztlichen Abschlussexamens zum selbständigen Prüfungsfach erhoben worden [8] - wie auch der Modernisierung der Behandlungsmethoden, wobei er die Anwendung der bei unruhigen Kranken bis dahin noch ausgedehnt genutzten mechanischen Zwangsmittel zu unterbinden suchte. Da dies zunächst an den baulichen Bedingungen der veralteten Klinik scheiterte, forderte Westphal energisch den bereits unter Arndt geplanten Neubau einer psychiatrischen Klinik [13,10]. Er hatte Erfolg, denn 1901 wurde der längst überfällige Bau nach dem Muster der Klinik in Halle beschlossen und 1902 einige hundert Meter vom Stadtkern entfernt auf der sogenannten Ellernholzparzelle begonnen (Abb.5) . Den Abschluss des Innenausbaus, der bis Ende 1905 andauerte, konnte Westphal nicht mehr begleiten, da er im Herbst 1904 dem Ruf auf den Bonner Lehrstuhl folgte [3].

 

 

Abb. 5: Lageplan

 

Die wesentlichen Forschungen Westphals in Greifswald fanden sich auf neurologischem bzw. histologischem Gebiet, insbesondere zu Fragen nach der Bedeutung von Traumen in der Pathogenese der Syringomyelie. Zudem fielen die ersten Arbeiten zu seinen bedeutsamen Untersuchungen zur Lichtreaktion der Pupille in seine Greifswalder Zeit [13].

 

 

Abb. 6: Ernst Schultze

Nachfolger Westphals wurde 1904 Ernst Schultze (1865-1938) (Abb.6) [5]. Er übernahm zunächst noch die alte Klinik in der Kuhstraße, bis am 23. Januar 1906 der Klinikneubau der „Königlich Psychiatrischen Klinik“ eingeweiht wurde (Abb.7) [10]. Gleichzeitig wurde Schultze zum Ordinarius für Psychiatrie berufen, wobei die Universität Greifswald als letzte des deutschen Sprachgebietes ein solches Ordinariat einrichtete [8]. Hintergrund war nicht zuletzt, dass die Vertreter der Inneren Medizin bemüht waren, ihre Kompetenzen für die Nervenheilkunde zu erhalten, weshalb sie sich für eine Beschränkung des Ordinariats auf die Psychiatrie eingesetzt hatten. Schultze gelang jedoch 1907 eine Umbenennung der Klinik in „Psychiatrische und Nervenklinik“ und im Weiteren über die Einrichtung einer poliklinischen Sprechstunde für Nervenkranke die Vereinigung von Lehre und Behandlung beider Gebiete unter dem Dach der neuen Klinik [5]. 1911 hatte er sich wegen bestehender Vorurteile gegenüber der Psychiatrie für die Separation der neurologischen Fälle über einen Neubau eingesetzt. Doch nach seinem Ausscheiden 1912 und mit dem Ausbruch des Krieges blieb die Verwirklichung des Baus in den Plänen stecken [10].

 

 

Abb. 7: Die Psychiatrische und Nervenklinik um 1906

 

Neben klinischen Arbeiten, wie zur chronisch progressiven Chorea und zur akuten cerebellären Ataxie sowie zur Unfallneurose, leistete Schultze vor allem Grundlagenarbeit auf dem Gebiet der Forensischen Psychiatrie, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Vorentwurf zum Strafgesetzbuch und damit verbunden der Sicherung der Gesellschaft gegen gemeingefährliche Kranke, aber auch zur Frage der Entmündigung Trunksüchtiger [13].


Abb. 8: Paul Schröder

Mit der Berufung von Paul Schröder (1873-1941) (Abb.8) begann 1912 die – mit kurzen Unterbrechungen - auffällig lange Besetzung des Greifswalder Lehrstuhls mit Schülern Karl Bonhoeffers (1868-1948) von der Berliner Charité, die bis 1965 andauerte. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 fungierte die Klinik als Reservelazarett, wobei die vergleichsweise hohe Kapazität von 40 bis 50 Betten dazu führte, dass etwa die Hälfte der Ressourcen nicht mehr für die Versorgung der Zivilbevölkerung in Greifswald zur Verfügung stand. Insbesondere die Provinzialkranken wurden deshalb in die durch das kriegsbedingte Hungersterben entleerten großen Provinzial-Heilanstalten verwiesen. Entsprechend diskutierte man seitens der Provinzialverwaltung 1918 die Kündigung des Vertrages mit der Universität. Schröder gelang es aber 1920 zumindest unter Halbierung der Bettenzahl für „Provinzialkranke“ eine Vertragsverlängerung zu erreichen, da diese Patienten nicht zuletzt auch als Arbeitskräfte für die Versorgung der Klinik genutzt wurden [4].

 

 

 

Betrachtet man die von seinem Nachfolger bei Amtsantritt für dringend notwendig erachteten Anschaffungen zur Gewährleistung des Klinikbetriebes, wie auch für Forschung und Ausbildung, so scheint die Ausstattung nicht auf einem modernen Stand gehalten worden zu sein [15]. Dabei spielten sicher auch wirtschaftliche Engpässe bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegszeit eine Rolle. Schröders erneute Bemühungen um die Einrichtung einer speziellen Abteilung für Nervenkranke blieben erfolglos [5].

Unter den in der Greifswalder Zeit entstandenen Veröffentlichungen Schröders stellte die Paralyse-Forschung sein Hauptarbeitsfeld dar. Darüber hinaus führte er histologische Untersuchungen auf mehreren anderen Gebieten durch und forschte über die traumatischen sowie die Intoxikationspsychosen. Besonders hervorzuheben sind Schröders Arbeiten zu den Halluzinationen, speziell deren klinische Differenzierung, sowie die Abgrenzung der Degenerationspsychosen, wodurch eine wichtige Präzisierung bei der Systematisierung der Krankheiten erreicht wurde [13,16]. Den Höhepunkt in Schröders Greifswalder Zeit stellte seine Wahl zum Rektor 1924 dar, allerdings folgte bereits ein Jahr später dem Ruf an die deutlich größere Universität Leipzig [16].

 

 

Abb. 9 : Edmund Robert Forster

1925 erhielt mit dem von der Berliner Charité kommenden Edmund Robert Forster (1878-1933) (Abb.9) wiederum ein Bonhoeffer-Schüler den Ruf auf den Greifswalder Lehrstuhl. Er machte sich die Modernisierung der Klinik zur Aufgabe, wobei er das Ziel verfolgte, eine nach wissenschaftlichen und kulturell-künstlerischen Gesichtspunkten führende Klinik einzurichten, was unter anderem den Ankauf von originalen Kunstwerken einschloss. Um die fachliche Differenzierung mit der Trennung von neurologischen und psychiatrischen Patienten voranzutreiben, forderte er erneut einen Neubau. Nachdem ihm dieser verwehrt blieb, gelang es ihm zumindest, die räumliche Trennung unter dem Dach des bisherigen Klinikbaus umzusetzen [15].

Zur Aufwertung der diagnostischen Möglichkeiten erwirkte Forster einen Röntgenneubau um z. B. Enzephalographien mit Luft- bzw. Jodipin-Injektionen auch vor Ort durchführen zu können. In therapeutischer Hinsicht konnte er im Zuge der aufstrebenden Neurochirurgie die Voraussetzungen für hirnchirurgische Eingriffe an der Klinik schaffen [15]. Auf diesem Wege sollte eine eigene chirurgisch-therapeutische Vorgehensweise für die Psychiatrie etabliert werden, wie sie von Fachvertretern häufiger gefordert wurde. Zwischen 1932 und 1934 wurden etwa 70 Patienten operiert. Letztlich setzte sich jedoch der Vertreter der Chirurgie mit seinem Widerstand gegen die neurochirurgischen Ambitionen der Psychiater durch [17].

 

 

Wissenschaftlich etablierte Forster im Gegensatz zu dem klinisch orientierten Schröder in erster Linie experimentelle Forschung. Neben tierexperimentellen Untersuchungen zeugen hiervon vor allem die Meskalin- und Kipptischversuche. Die progressive Paralyse und die Liquor-Zytologie blieben seine zentralen Forschungsschwerpunkte wie schon zuvor in Berlin [15].

Politisch bemerkenswert in dieser Zeit ist die Ablehnung der Habilitation des an der Nervenklinik unter Forster tätigen ungarischen Juden Julius Zádor (1901-?) im Jahr 1929 durch die Mitglieder der Medizinischen Fakultät unter unmissverständlichen rechtskonservativ-rassistischen Stellungnahmen trotz Erfüllung der wissenschaftlichen Anforderungen [15]. Diese signalisierte die bereits frühe Tendenz der Annäherung mancher Hochschullehrer an nationalsozialistische Positionen [17]. 



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