Zum 1. April 1938 wurde mit Rudolf Thiele (1888-1960) (Abb.12) einem weiteren Vertreter der Bonhoeffer-Schule die Leitung der Nervenklinik übertragen, kurz darauf erhielt er die ordentliche Professur. Mit seiner Berufung war zwar wieder mehr Kontinuität bei der Klinikleitung verbunden, anderseits mussten durch den Ausbruch des Krieges zunehmend maßgebliche Kapazitäten der Klinik für Lazarettzwecke zur Verfügung gestellt werden, was die Versorgung der Zivilbevölkerung einschränkte, während personelle Engpässe durch Einberufungen die Situation massiv zugespitzten [4,10].
Trotzdem gelang es 1940 die Elektrokonvulsivtherapie als neue Behandlungsmethode zu etablieren. Eine ungewöhnliche Entwicklung stellte zudem die Aufnahme der Graphologie, vertreten durch den Psychiater Rudolf Pophal (1893-1966), in die psychiatrische Ausbildung dar [4]. Hingegen zeigten sich die Forschungsaktivitäten deutlich rückläufig, mit den Untersuchungen zur Kausalgie fand sich lediglich ein „kriegswichtiger“ Forschungsbereich. [4]. Thiele war allerdings parallel eng in militärpsychiatrische Strukturen eingebunden, indem er den Lazarettbereich der Nervenklinik leitete und als beratender Psychiater für den Wehrkreis II (Stettin) fungierte, wobei er ein hartes Vorgehen gegen Patienten mit kriegsbedingten hysterischen Reaktionen propagierte und einen Vorstoß gegen die Straffreiheit solcher Störungen unternahm. Diese dem NS-System nahe Tätigkeit verleugnete er nach dem Krieg jedoch weitgehend [4,6].
Betrachtet man die Verwicklung der Klinik bei der Umsetzung der Zwangsterilisationen insgesamt, so wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ohne erkennbaren Widerstand durchgesetzt und korrespondierte insbesondere mit den eugenischen Auffassungen Rudolf Thieles, der entscheidend an der Umsetzung mitwirkte [4,26]. Die Auswertung der Patientenakten der Universitäts-Nervenklinik Greifswald über den Gesamtzeitraum von 1933 bis 1945 ergaben bei 2.325 Fällen mit relevanten Diagnosen 442 Sterilisierungen befürwortende Beschlüsse von Erbgesundheitsgerichten. Die Gutachten von Ärzten der Klinik wiesen dabei eher die Tendenz auf, eine Krankheit im Sinne des Gesetzes zu diagnostizieren als auszuschließen [27].
Vor dem Hintergrund, dass es in der Provinz Pommern auf Initiative des Gauleiters Franz Schwede-Coburg (1888-1960) schon vor dem offiziellen Beginn der NS-Krankenmordaktion „T4“ zu Patiententötungen kam, im Rahmen derer bis Dezember 1939 1.400 Patienten des Pommerschen Provinzialverbandes auf besetztem polnischem Territorium erschossen wurden [28,29], stellt sich die Frage, wie weit die Universitätsnervenklinik in diese eingebunden war. Dieser ersten Tötungswelle fielen zumindest die Patienten mit absehbar längerer stationärer Behandlungsbedürftigkeit zum Opfer, die in den Vorjahren in die nahegelegene Landesheilanstalt Stralsund verlegt worden waren [6]. Nach Räumung der Stralsunder Anstalt als erster Heilanstalt auf deutschem Boden [30] erfolgten von der Nervenklinik aus Verlegungen von 190 Patienten in die Landesheilanstalt Ueckermünde, wobei sich Anhaltspunkte ergaben, dass angesichts der hohen Sterberaten ein Teil dieser in die dortigen Tötungen einbezogen waren [28,4]. Sechs Patienten wurden in die Landesheilanstalt Meseritz-Obrawalde verlegt, die im Rahmen der späteren regionalisierten „Euthanasie“ als Tötungsanstalt fungierte [4]. Diese Praxis bietet zumindest einen Anhaltspunkt, dass Patienten der Nervenklinik auf indirektem Wege den Krankenmorden zum Opfer gefallen sind. Bei zwei Patienten die unter der Eintragung „ungeheilt in das Warthegau“ ohne konkreten Bestimmungsort verlegt wurden [4], könnte sogar ein Abtransport zur direkten Tötung vermutet werden.