1945–1990


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Nachkriegszeit und Entwicklung in der DDR (1945-1990)

Am 30. April 1945 wurde Greifswald kampflos der Roten Armee übergeben. Die Klinik hatte in der folgenden Zeit sehr unter personellem und materiellem Mangel wie auch Personalfluktuation zu leiden [4]. In den nachfolgenden Verhandlungen mit der Sowjetischen Militäradministration um die Wiedereröffnung der Universität wurde eine konsequente Entnazifizierung gefordert [26]. Im Zuge dessen entließ die Landesregierung Rudolf Thiele 1946. Wie viele seiner Kollegen ließ er eine Verantwortungsübernahme vermissen, vielmehr präsentierte er sich als unpolitischer Mediziner, der ohne Zutun in die Partei aufgenommen wurde und der „Euthanasie“-Aktion energisch entgegengetreten sei [6].

Die Diskrepanz zwischen ursprünglichem Anspruch und Realität der Hochschulpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone offenbarte sich nicht zuletzt darin, dass Thiele trotz seiner politischen Belastung wegen des Ärztemangels und angesichts seiner wissenschaftlichen Reputation nach kurzer Unterbrechung bereits 1948 in Berlin wieder als Hochschullehrer mit vollem Lehrauftrag und Leiter der Nerven-Poliklinik der Charité wieder eingestellt und 1949 zum ordentlichen Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Charité in Berlin berufen wurde [26,31].

Abb. 13: Hanns Schwarz

In Greifswald übernahm im Herbst 1946 mit dem als Opfer der NS-Rassengesetzgebung politisch unbelasteten Hanns Schwarz (1898-1977) (Abb.13) der nunmehr vierte Bonhoeffer-Schüler das Direktorat der Klinik [4]. Schwarz hatte bereits im Dezember 1932 wegen seiner jüdischen Ehefrau die Berliner Charité verlassen und war vor Amtsantritt in Greifswald in einer nervenärztlichen Praxis in Berlin tätig [32]. Dass er weder an eine Hochschullaufbahn anknüpfen konnte, noch habilitiert war, zeigt die große Bereitschaft der Medizinischen Fakultäten angesichts des Personalmangels in der ersten Nachkriegszeit von den üblichen Laufbahnvorschriften abzusehen [31]. Schwarz biographischer Hintergrund ist sicher ein maßgeblicher Aspekt, dass er sich als einer der wenigen Vertreter seines Faches bereits in den ersten Jahren nach 1945, die durch viele personelle Kontinuitäten geprägt waren, mit ärztlichen Verbrechen im Nationalsozialismus auseinandersetzte [32].


 

Nach Verbot aller zu NS-Zeit bestehenden Organisationen durch die Alliierten drängten die zentralen Gesundheitsbehörden auf die Bildung wissenschaftlich-medizinischer Gesellschaften. Im Zuge dessen initiierte Hanns Schwarz 1948 die Gründung der „Psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft in Mecklenburg“, die sich zu einem regionalen Podium für Fortbildung und Forschung entwickelte, während die zentral angestrebte politische Einflussnahme vergleichsweise gering blieb [4]. Weiterhin begründete Schwarz die Schriftenreihen "Sammlung zwangloser Abhandlung aus dem Gebiet der Psychiatrie und Neurologie" und "Medizinisch-juristische Grenzfragen" war Mitherausgeber der 1949 gegründeten Zeitschrift "Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie” der DDR. Seine wissenschaftliche Tätigkeit war breit gefächert. Dabei knüpfte er an seine früheren Forschungen zu den Rauschgiftsuchten sowie zur forensischen Begutachtung an, wobei forensisch-psychiatrische Fragestellungen in seinem wissenschaftlichen Werk durchgängig einen besonderen Stellenwert innehatten. Darüber hinaus reichte das Spektrum seiner Publikationen von neurologischen bis zu psychotherapeutischen bzw. psychoanalytischen Aspekten [32].

Ein nach Ende des Krieges zunehmendes klinisches Problem stellte der rasche Wiederanstieg der Patientenzahlen bei Mangel an Aufnahmekapazitäten dar, so dass es zwischenzeitlich bis zur Wiedereröffnung einer psychiatrischen Abteilung in Stralsund 1953 zu einer verstärkten Belegung mit chronisch Kranken entgegen dem wissenschaftlichen Anspruch einer Universitätsklinik kam. Zum Bettenmangel trat ein personeller Mangel im ärztlichen Bereich hinzu [4]. Unabhängig von diesen Engpässen hatte sich Hanns Schwarz bereits kurz nach Übernahme der Klinik für eine altersgerechte Unterbringung behandlungsbedürftiger Kinder und Jugendlicher eingesetzt [4]. Nachdem ab 1947 zwar eine spezielle Sprechstunde, aber lediglich eine provisorische kinderpsychiatrische Station realisiert werden konnten, stellte die Eröffnung des Kinderpavillons 1954 mit 26 Betten als bedeutendste bauliche Erweiterung seit dem Anbau der Röntgenabteilung einen Meilenstein aus klinischer Perspektive dar [10]. Mit der Universitätsklinik Leipzig war die Greifswalder Klinik zu dieser Zeit eine der wenigen Einrichtungen der DDR, die Kinderpsychotherapie anboten [33]. Darüber hinaus stieß Schwarz auch die Differenzierung des neurologischen Bereiches der Klinik durch die Wiederinbetriebnahme die neuropathologischen Abteilung 1948 sowie die Einrichtung einer Abteilung für Elektroenzephalographie 1957/58 an [5].

In die letzten Jahre der Amtszeit von Hanns Schwarz fielen Anfang der 1960er Jahre nach Überwindung der einseitigen Orientierung an der staatlich propagierten Pawlowschen Theorie im Jahrzehnt zuvor auch die ersten sozialpsychiatrischen Reformbemühungen in der DDR in Form der 1963 auf einem internationalen Symposium über psychiatrische Rehabilitation in Rodewisch formulierten „Rodewischer Thesen“ [34]. Schwarz‘ skeptische Ablehnung [4] lag dabei auf der Linie der meisten Vertreter der universitären Psychiatrie in der DDR, die sich nur in begrenztem Maße an dem vornehmlich im außeruniversitären Bereich initiierten Reformprozess beteiligten [34].

Nach Schwarz‘ Abschied 1965 kam es auch an der Greifswalder Nervenklinik zu einem Generationswechsel, wie er sich innerhalb der universitären Psychiatrie und Neurologie der DDR seit Ende der 1950er Jahre vollzog. Es blieb bei der Neuorganisation des Hochschulwesens ein erklärtes Ziel, die Lehren des Marxismus-Leninismus umzusetzen. So übernahmen nun Hochschullehrer in der Psychiatrie und Neurologie die Verantwortung, die sich politisch weitgehend loyal verhielten und von der einige Vertreter die psychiatrische und neurologische Lehre und Wissenschaft bis zum Ende der DDR bestimmen sollten [31].


Abb. 14: Karl-Heinz Elsaesser

Schwarz‘ Schüler Karl-Heinz Elsaesser (1912-1979) (Abb.14), der nach Rückkehr von der Universität Rostock nach Greifswald ab 1960 bereits die Abteilung für Neurohistopathologie geleitet hatte und 1965 das Direktorat der Klinik übernahm, ist trotz seines vergleichsweise fortgeschrittenen Alters bereits hier hinzuzuzählen. Er wurde 1971 zum ordentlichen Professor berufen [31]. Mit ihm stand erstmals ein eher neurologisch ausgerichteter Fachvertreter der Klinik vor, was sich unter anderem in der Einrichtung einer Abteilung für Elektromyographie widerspiegelte [5]. Seine 8jährige Amtszeit ist wie auch die seiner beiden Nachfolger bisher kaum erforscht.

Elsaessers direkter Nachfolger, der von der Medizinischen Akademie in Magdeburg kommende Günter Rabending (*1931) mit seiner bereits unter sozialistischen Vorzeichen absolvierten akademischen Ausbildung [35], weist noch deutlicher die Typologie der sogenannten zweiten Hochschullehrergeneration auf, die ihr Fach nachhaltig prägte [31]. Mit ihm folgte im September 1973 ein weiterer Lehrstuhlinhaber mit neurologischer Orientierung, der zudem eine epileptologische Spezialisierung besaß und im März 1974 nach Entpflichtung Elsaessers die Leitung der Gesamtklinik übernahm [5], die später eine Abteilungsstruktur bekam [36]. Unter seiner Leitung entwickelte sich die neurologische Abteilung maßgeblich weiter und die Greifswalder Nervenklinik wurde zu dem führenden Epilepsiezentrum in der DDR mit einer überregionalen Spezialambulanz für Anfallskranke und einer breiten wissenschaftlichen Publikationstätigkeit, wobei Rabending als Vorsitzender der Sektion Epilepsie die DDR von 1983 bis 1990 in der International League Against Epilepsy (ILAE) vertrat [35].

Über die konservative Epileptologie hinaus konnte 1987/88 mit Hilfe der Volkswagenstiftung und dem bundesdeutschen Epilepsiezentrum Erlangen/Nürnberg die erste Anlage zur Video-EEG-Doppelbildaufzeichnung angeschafft werden, die in Greifswald als erster Klinik in der DDR eine präoperative Epilepsiediagnostik ermöglichte, wobei die ersten epilepsiechirurgischen Behandlungen in Erlangen und später Bonn erfolgten. Gleichzeitig hatte die Klinik im Bereich Neuroelektrodiagnostik mit mehreren Arbeitsgruppen (Elektromyographie/ Elektroneurographie, Elektroenzephalographie, evozierte Potentiale) eine führende Rolle in der DDR inne. Als weitere wichtige Bereiche sind Forschungen zu neurologischen Begleiterkrankungen beim Diabetes mellitus und der Aufbau eines neuroradiologischen Bereiches wie auch eines Liquor-Labors zu nennen. Im Jahr 1985 wurden die Oberärzte Gerhard Reichel (*1943) und Armin Wagner als ordentliche Professoren für Neurologie und Psychiatrie nach Erfurt bzw. für Neurologie nach Leipzig berufen [36].

Unter Günter Rabendings Direktorat leitete Wolfgang Fischer (*1936), der im September 1979 zum ordentlichen Professor für Neurologie und Psychiatrie ernannt wurde, die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Klinik [36], zu der eine psychotherapeutische Station, der kinder- und jugendpsychiatrische und ein teilstationärer Bereich gehörten. Er war gleichzeitig Leiter der regionalen Arbeitsgemeinschaft der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Rostock [37]. Über die Entwicklung dieser Zeit ist bisher wenig bekannt. Es finden sich lediglich punktuelle Aspekte, wie die Anwendung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie als wichtigste Psychotherapiemethode in der DDR [38] unter anderem bei schizophren Erkrankten [39,40]. Zudem gab es offenbar Bemühungen, den ambulanten psychiatrischen Versorgungssektor in den Allgemeinarztpraxen zu stärken, wie die praxisbezogenen Veröffentlichungen Fischers zum Arzt-Patient-Verhältnis und zur ambulanten Behandlung psychischer Störungen nahelegen [41,42].

Insgesamt ist aber anzumerken, dass die Psychiatrie im DDR-Gesundheitssystem kaum eine Lobby hatte, was zu Entwicklungsblockaden und Missständen führte, wie sie sich im Bericht der Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Gesundheit zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR von 1991 auch für die Greifswalder Universitätsklinik widerspiegeln. Er weist für 1989 das Bestehen einer Saalpsychiatrie in Gebäuden mit einem für die DDR-Psychiatrie typischen schlechten baulichen Zustand mit starker Überbelegung angesichts eines für die Größe des Versorgungsgebietes viel zu niedrigen Bettenschlüssels aus [43]. Hintergründe waren unter anderem das Scheitern der sozialpsychiatrischen Reformen am politischen System DDR, das eine öffentliche Problemanalyse nicht zuließ, wie auch das Festhalten an einer zentralisierten, krankenhauszentrierten Betreuung [34]. 



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