Zur Entwicklung der Hochschulpsychiatrie in Greifswald

Verfasser: Dr. med. Jan Armbruster (Stand 02/2016)

 

 

Überblick

Die Hochschulpsychiatrie in Greifswald hat in den mehr als 180 Jahren ihrer Entwicklung seit der Eröffnung der Irrenheilanstalt Neu-Vorpommern zu Greifswald als Vorläufer der späteren Universitätsnervenklinik eine wechselvolle Entwicklung durchlaufen. Dabei erwuchsen die Anfänge des Greifswalder Universitätsklinikums aus einer Verknüpfung der vorhandenen städtischen bzw. provinzialen Versorgungsstrukturen mit den Strukturen der Universität. Auf dieser Grundlage eröffnete 1834 auch die erste Irrenheilanstalt der Provinz Pommern, deren Krankengut für den Lehrbetrieb genutzt wurde. Auf die weitere Entwicklung wirkte diese Verbindung jedoch hemmend, da sich die Interessen von Universität und Provinzialverbänden divergent entwickelten. Während der Focus für die universitäre Lehre auf der Behandlung von heilbaren Störungen mit hohem Patientendurchlauf lag, umfasste der Auftrag der Provinzialverbände notwendigerweise die Versorgung chronisch Kranker. Hierdurch wurden die erforderlichen Erweiterungen der Greifswalder Klinik einschließlich des länger begehrten Klinikneubaus bis zur Übernahme der Anstalt durch die Universität und auch noch danach behindert [1,2,3]. Dabei stellt der Fortbestand des Vertrages mit dem Provinzialverband bis 1939 angesichts der sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts vollziehenden Separierung von Universitäts- und Anstaltspsychiatrie eine Besonderheit dar [4].

 

Als einen Rückgriff auf dieses Modell könnte man die Kooperationsvereinbarung zwischen der Universität, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem damals noch kommunalen Klinikum der Hansestadt Stralsund verstehen, die mit der Schließung der Greifswalder Universitäts-Nervenklinik wegen eines notwendigen Bettenabbaus ab 1997 die Nutzung der Stralsunder Klinik für die universitäre Lehre regelte. Aus den Bestrebungen der letzten Jahre seitens der Universität, die Psychiatrie auch wieder vor Ort in Greifswald zu implementieren und zu entwickeln, spricht die schon Ende des 19. Jahrhunderts gewonnene Erkenntnis, dass die Vorteile einer solchen universitären Lösung überwiegen.

Eine weitere Entwicklungslinie stand im Zusammenhang mit der sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Fächerdifferenzierung in der Medizin emanzipierenden Neurologie. Hier fand sich ein Konflikt zwischen den Leitern der Medizinischen Klinik, denen bis 1875 die Versorgung der Irrenklinik oblegen hatte, und den psychiatrischen Fachvertretern um die Versorgung der neurologischen Fälle und die Ansprüche beider Seiten bezüglich deren Nutzung für die Lehre. Dies führte unter anderem dazu, dass in Greifswald als letzter deutschsprachiger Universität erst 1906 ein Ordinariat eingerichtet wurde, das dann formal auf die Psychiatrie beschränkt blieb. Trotzdem gelang es danach die Versorgung der neurologisch erkrankten Patienten in die „Psychiatrische und Nervenklinik“ zu integrieren und eine Beschränkung Lehrauftrages für Nervenheilkunde auf den psychiatrischen Fachvertreter zu erwirken.

 

Die ab 1911 wiederholt geforderte Trennung beider Bereiche über einen Klinikneubau für Neurologie ließ sich hingegen auch langfristig nicht realisieren. Erst in den 1930er Jahren wurde eine räumliche Trennung psychiatrischer und neurologischer Patienten innerhalb der Klinik durchgesetzt. Gleichzeitig fand sich nun ein Konflikt mit den chirurgischen Fachvertretern um die Behandlung der neurochirurgischen Fälle, der letztlich zu deren Gunsten beigelegt wurde. Nach 1945 blieb die Verbindung von Neurologie und Psychiatrie während der DDR-Zeit bestehen, wobei die Klink in den 1970er und 80er Jahren neurologisch dominiert scheint. Erst 1994 wurde die Trennung in eigenständige Kliniken für Neurologie und Psychiatrie vollzogen [5].

 

Natürlich wurde die Entwicklung der Klinik einschließlich Forschung und Lehre auch durch politische Einflüsse, wie die beiden Weltkriege, welche eine erhebliche Zäsur für die Krankenversorgung wie auch für Forschung und Lehre bedeuteten und zahlreiche Opfer forderten, aber auch durch politische Einflussnahme über die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen geprägt. In besonderem Maße betraf letzteres die NS-Zeit, die bereits relativ gut erforscht ist [4,6]. Während dieser kam es unter deutlicher Einschränkung der Entscheidungsautonomie der Medizinischen Fakultät zu einer politisch mitbedingten Diskontinuität bei der Besetzung des Lehrstuhls. Darüber hinaus wurde ein Lehrstuhlinhaber nach einer Denunziation suspendiert, gegen einen weiteren wurde nach der Beurlaubung ein Dienststrafverfahren wegen seiner teilweise jüdischen Ehefrau eingeleitet. Die Durchsetzung der NS-Gesundheitspolitik mit der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ mit Zwangssterilisationen bei Patienten und die vermutlich indirekte Einbeziehung von Patienten der Klinik in die Krankenmorde im Rahmen des NS-„Euthanasie“-Programmes sind ebenfalls hierzu zu zählen. Aufgrund dieser Verflechtungen kam es mit dem Systemwechsel nach 1945 auch zu einem Bruch in der Karriere des letzten Lehrstuhlinhabers.

 

Für die DDR-Zeit liegen über die Anfangsjahre hinaus [4] keine differenzierten Untersuchungen über die Greifswalder Nervenklinik vor. Auch hier fand sich jedoch mit dem freiwilligen Rückzug des letzten Klinikdirektors nach der politischen Wende formal ein Bruch in dessen akademischer Laufbahn.

Betrachtet man die Lehrstuhlinhaber und Klinikdirektoren insgesamt, so hat die Leitung der Greifswalder Klinik vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1945 für die Mehrzahl der Amtsinhaber lediglich einen Zwischenschritt in ihrer akademischen Karriere bedeutet. Gleichzeitig imponiert zwischen 1912 und 1965 eine Dominanz von Schülern Karl Bonhoeffers. Nach 1945 finden sich im Verlauf keine Wechsel der Klinikdirektoren auf andere Lehrstühle mehr, während 1985 in der Phase, in der die Universitätsnervenklinik nach außen ihr wohl größtes Renommee besaß, zwei Oberärzte der Klinik andernorts Lehrstühle für Neurologie bzw. Neurologie und Psychiatrie übernahmen. Bemerkenswert ist sicher auch die übergangsweise parallele Besetzung mit zwei Lehrstuhlinhabern in Greifswald und Stralsund im Zuge der Ausgliederung des Fachgebietes zwischen 1997 bis 2001 wie auch neuerlich ab 2015 mit den Bestrebungen seitens der Universität den Bereich Psychiatrie und Psychotherapie wieder vor Ort in Greifswald zu entwickeln.