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Patienteninformation
Individualisierte Medizin aus Sicht der Neurologie

Interview mit Prof. Dr. Ulf Schminke, Mai 2012

Prof. Dr. Ulf Schminke ist leitender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Neurologie. Eine seiner wissenschaftlichen Interessen liegt in der Individualisierten Medizin. Dies ist ein Grund, warum er sich bei dem Projekt GANI_MED (Greifswald Approach to Individualized Medicine) engagiert.

 

Warum engagieren Sie sich in dem Bereich der Individualisierten Medizin?

Individualisierte Medizin ist sicherlich eines der großen Themen, die die medizinische Versorgung in den kommenden 10 bis 20 Jahren prägen werden. Unser Wissen über die Behandlung und Diagnostik von Krankheiten stammt im Wesentlichen aus großen randomisierten klinischen Studien, bei denen in der Regel mehrere tausend Patienten in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden, die jeweils unterschiedliche Therapien erhalten. Wenn in solchen Studien eine bestimmte Therapie im Gruppendurchschnitt besser abgeschnitten hat als andere Therapien, dann heißt das aber noch lange nicht, dass dies auch für jeden einzelnen Patienten in dieser Gruppe gilt. In jeder Gruppe gibt es Therapieversager und es wäre von großer Wichtigkeit, diese Therapieversager zu identifizieren. Nehmen wir als Beispiel die Behandlung des Schlaganfalls: Hier stehen uns zur Sekundärprävention von Schlaganfällen verschiedene Medikamente zur Verfügung, von denen keines sich in den großen randomisierten Studien gegenüber anderen Medikamenten als unterlegen oder überlegen erwiesen hat. Trotzdem ist zu vermuten, dass bei vielen Patienten aufgrund ihrer genetischen Veranlagung und ihres individuellen Stoffwechsels eines der Medikamente besser geeignet ist als ein anderes. Das können wir aber nicht dadurch herausfinden, indem wir nur große Gruppen von über tausend Patienten vergleichen. Dafür bedarf es der individualisierten Medizin. Trotz leitliniengerechter Sekundärprävention kommt es bei ca. 10% der Schlaganfallpatienten im Laufe des Lebens zu einem erneuten Schlaganfall. In einem solchen Fall nicht erfolgreicher medikamentöser Prävention wird in der Regel das Medikament gewechselt. Wünschenswert wäre allerdings, wenn es gelänge, bereits von vornherein das Medikament auswählen zu können, das am besten den individuellen Bedürfnissen eines einzelnen Patienten entspricht. Genau das ist das Ziel von Gani-Med, nämlich durch umfassende Kenntnis aller relevanten Krankheitsfaktoren, inklusive Umweltfaktoren, Lebensführung, sozioökonomischen Variablen und genetischer Veranlagung eine auf den individuellen Stoffwechsel eines Patienten ausgerichtete Therapiestrategie zu entwickeln. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass der Schritt von der evidenzbasierten zur individualisierten Medizin dringend notwendig ist. Das ist meine Motivation, mich für dieses Thema zu engagieren.

 

Wie ist die Klinik und Poliklinik für Neurologie in das Projekt GANI_MED involviert?

Die Klinik und Poliklinik für Neurologie wird eine große Kohorte aus Patienten mit akuten Schlaganfällen rekrutieren. Anhand deren Daten sollen im nächsten Schritt Biomarker identifiziert werden, die besondere genetische Veranlagungen oder individuelle Stoffwechselbesonderheiten kennzeichnen und die wiederum ausschlaggebend sind für beispielsweise das Ansprechen bestimmter Therapien.

 

Welche neurologischen Themenfelder werden in dem Projekt beforscht? Wie profitieren die  Patienten?

Im wesentlichen geht es bei Gani-Med um die Identifizierung von Biomarkern, insbesondere solche aus dem Gebiet Genomic- und Postgenomic-Research, anhand derer Patienten mit gleichen Krankheits-Phänotypen in weitere Untergruppen stratifiziert werden können. Uns interessieren beispielsweise Gen-Expressionsmuster, die bei unterschiedlichen Pathomechanismen von Schlaganfällen auftreten, aber auch solche Biomarker, die mit dem Ansprechen oder Nicht-Ansprechen auf bestimmte Therapien assoziiert sein können. Gemeinsam mit den Daten der bevölkerungsbasierten SHIP-Studie sollen darüber hinaus die Einflüsse von Risikofaktoren auf das Gefäßsystem der hirnversorgenden Gefäße untersucht werden, um ein besseres Verständnis für die Entstehung von Gefäßerkrankungen zu erhalten und um in Zukunft bessere Strategien zur Primärprophylaxe von Gefäßerkrankungen entwickeln zu können. In Zusammenarbeit mit der Zahnklinik wird zudem der Einfluss von Parodontalerkrankungen auf Veränderungen der Blutgefäße untersucht.

Bei der Frage, in wie weit die Patienten von der Teilnahme an Gani-Med profitieren, müssen wir ehrlich sein. Wissenschaftlich relevante Ergebnisse wird es erst geben können, wenn eine genügend große Zahl von Patienten in die Studie eingeschlossen sind. Für den aktuellen stationären Behandlungsfall werden die Patienten durch die Teilnahme an der Studie noch keinen Vorteil haben. Sollte es aber gelingen, Biomarker zu identifizieren, dann werden diese Patienten in Zukunft durchaus von der Studie profitieren können, da dann die weitere Sekundärpräventionsbehandlung individuell optimiert werden kann oder im Falle von erneuten Schlaganfällen die Diagnostik und Therapie individuell angepasst werden kann.

 

Welche Hoffnungen ergeben sich für  die Schlaganfall-Forschung und Behandlung aus der Thematik der Individualisierten Medizin?

Insbesondere auf dem Gebiet der Schlaganfallbehandlung wurden in den vergangenen 20 Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Noch während meines Medizinstudiums galt der Schlaganfall als ein Schicksalsschlag, der therapeutisch nicht wesentlich zu beeinflussen war, so dass der Schwerpunkt der Behandlung auf der Rehabilitation lag. Durch die mittlerweile weltweit übliche Behandlung des Schlaganfalls auf speziellen Schlaganfallstationen, den so genannten Stroke Units, und durch diverse Rekanalisierungsbehandlungen, mit denen verstopfte Arterien wieder durchgängig gemacht werden können und somit eine Wiederherstellung der Blutversorgung des Gehirns erreicht werden kann, noch bevor Nervenzellen unwiederbringlich geschädigt werden, kann in vielen Fällen eine dauerhafte körperliche Behinderung nach einem Schlaganfall verhindert werden. Individualisierte Medizin ist nun die logische Fortsetzung dieser Entwicklung, weil wir davon ausgehen, dass sich mittels auf den einzelnen Patienten maßgeschneiderte Therapiestrategien bessere Behandlungserfolge und weniger unerwünschte Nebenwirkungen erzielen lassen.

 

Wie läuft die Aufnahme einer Patientin/eines Patienten in GANI_MED ab?

(Anmerkung: Es können nur Patienten des Klinikums teilnehmen, keine freiweilligen Nicht-Patienten)

Sobald die Akutbehandlung des Schlaganfalls abgeschlossen ist und sich die Patienten in einem stabilen Zustand befinden, werden sie von Mitarbeitern unserer Klinik über das Gani-Med-Projekt informiert. Nach ausreichender Bedenkzeit können sie sich dann entscheiden, ob sie an der Studie teilnehmen möchten oder nicht. Viele Patienten beraten sich auch zunächst mit ihren Angehörigen, bevor sie eine Entscheidung zur Teilnahme an der Studie fällen. Nach Einwilligung zur Teilnahme an der Studie wird am darauf folgenden Morgen eine zusätzliche Blutentnahme erfolgen, und es wird auf der Basis eines computergestützten Interviews eine ausführliche Erhebung der bisherigen Krankengeschichte erfolgen. Ansonsten ist die stationäre Behandlung die gleiche, egal ob ein Patient an Gani-Med teilnimmt oder nicht. Lediglich die Patienten, die freiwillig einer zahnärztlichen Untersuchung zustimmen, werden während des stationären Aufenthaltes am Krankenbett von einem Zahnarzt bezüglich ihres Zahnstatus untersucht.

 

Was passiert mit den Daten?

Alle Informationen der Krankengeschichte, des aktuellen Untersuchungsbefundes sowie die Ergebnisse aller apparativen Untersuchungen, die während des stationären Krankenhausaufenthaltes durchgeführt werden, werden in einer großen Datenbank gespeichert. Die Speicherung der Daten in dieser Datenbank erfolgt allerdings pseudonymisiert, das heißt, dass alle persönlichen Daten wie Name, Geburtsdatum, Wohnort, aber auch alle sonstigen Daten, die es erlauben würden, Rückschlüsse auf eine einzelne Person zu ziehen, verschlüsselt werden. Sobald die Daten in der Datenbank gespeichert sind, können diejenigen, die später diese Daten wissenschaftlich auswerten möchten, nicht mehr herauszufinden, von welchem Patienten diese Daten stammen. Grundsätzlich stehen die Daten allen Wissenschaftlern der Universität Greifswald offen. Es wird jedoch ein Komitee geben, das darüber wacht, dass Daten nur für sinnvolle und seriöse Forschungsprojekte freigegeben sowie die Bestimmungen des Datenschutzes und der wissenschaftlichen Ethik eingehalten werden. Die Publikation von individuellen Daten eines einzelnen Patienten ist dabei ausgeschlossen.

 

Was hat sich aus Ihrer Sicht  in der Klinikroutine verändert seit das Projekt GANI_MED läuft?

Natürlich ist es eines der Ziele von Gani-Med, die Qualität von klinischen Untersuchungsmethoden zu verbessern. Unser Anspruch ist, dass eine bestimmte Untersuchungsmethode in der Universitätsmedizin Greifswald mit der gleichen Qualität standardisiert durchgeführt wird, egal auf welcher Station diese Untersuchung und egal von welcher Person diese Untersuchung durchgeführt wird. Allerdings muss dies natürlich kostenneutral erfolgen. Eine Standardisierung von Untersuchungen darf nämlich nicht dazu führen, dass beispielsweise Laborwerte untersucht werden, die für die Behandlung gar nicht erforderlich sind, oder dass Untersuchungen in einer Ausführlichkeit durchgeführt werden, die für die vorliegende Krankheit nicht angemessen wäre. Unter diesem Aspekt sind die Veränderungen in der klinischen Routine eher gering. Auf jeden Fall regt Gani-Med aber zum Nachdenken an, wie man Prozesse der täglichen Routine noch ein Stück besser und noch ein Stück optimaler gestalten kann, ohne dass dies zwangsläufig zu einem größeren personellen und apparativen Aufwand führen muss.

 

Welche Chancen sehen Sie für Ihre Arbeit sowie für den Standort Greifswald durch das Projekt GANI_MED?

Die Universitätsmedizin Greifswald hat aufgrund von Gani-Med die einzigartige Chance, eine Vorreiter-Rolle in Deutschland auf dem Gebiet der individualisierten Medizin einzunehmen. Nirgendwo sonst in Deutschland wird individualisierte Medizin in einer solchen Breite und fächerübergreifend, ja sogar fakultätenübergreifend erforscht. Insofern stellt dies ein Alleinstellungsmerkmal für den Standort Greifswald dar, das die Attraktivität unseres Standortes erheblich steigern wird und Kristallationspunkt sein kann für nationale und internationale Kooperationen.

 

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