UMG live - Mitarbeiterzeitung 2 | 2016 - page 28

Im Spiegel der Zeit / Die erste Promovendin der EMAU
Im Spiegel
der Zeit
Gertrud Roegner (1873-1923) - die erste
Promovendin der Greifswalder Universität
Aktuell studieren mehr Frauen als Männer Medizin in Greifs-
wald und medizinische Promotionen von Frauen sind eine
Selbstverständlichkeit geworden. Vor 110 Jahren war die
Situation indes noch ganz anders.
Gertrud Roegner war 450 Jahre nach Gründung der Universi-
tät Greifswald nicht nur die erste Promovendin der Medizin,
sondern auch die erste Frau überhaupt, die hier einen Doktor-
titel erwarb. Für die damals 32-jährige Roegner war es ein
langer und schwerer Weg bis zu ihrer Promotionsurkunde.
Am 15. Juni 1873 als Kaufmannstochter in Liegnitz in Nieder-
schlesien geboren, ergriff sie zunächst den Lehrerinnenberuf.
Mit 28 Jahren entschied sie sich, ein Medizinstudium an der
Universität Halle zu beginnen. Hier war bereits 1754 Doro-
thea Erxleben (1715-1762) als erste Ärztin in Deutschland
promoviert worden. Während Roegners Aufenthalt in Halle
erlangten dort 1901 immerhin drei Frauen eine medizinische
Promotion. Nicht zuletzt diese Vorbilder weckten in ihr den
Wunsch, selbst eine medizinische Promotion anzustreben.
Nach weiteren Aufenthalten in Göttingen und Breslau, bat
sie um Erlaubnis, in Greifswald ihre Studien fortsetzen und
beenden zu können. Bis dato hatte es in Greifswald mit Maria
Ballien (1882-1909/10) lediglich eine einzige Gasthörerin der
Medizin gegeben. Warum Gertrud Roegner nach Greifswald
wechselte, bleibt unklar. Die meisten anderen Gasthörerin-
nen, die zum größten Teil Vorlesungen in Englisch, Franzö-
sisch, Musik oder Kunstgeschichte besuchten, gaben als
Zweck nicht „Staatsprüfung“, sondern lediglich „Fortbildung“
an und verfolgten wohl nicht wirklich die Absicht, einen Stu-
dienabschluss zu erreichen. Ihr Doktorvater, der Pathologe
Paul Grawitz (1850-1932) befürwortete Roegners Gesuch um
Aufnahme des Studiums in Greifswald.
Nachdem Maria Ballien als erste Medizinstudentin in Greifs-
wald am 9. Juni 1905 ihr Staatsexamen ablegt hatte, gelang
dies am12. Dezember 1905 auch Gertrud Roegner. EinigeMo-
nate später reichte sie ihre Doktorarbeit „Ein Enterokystom
des Mesenteriums und Netzes“ ein. Hier beschrieb sie den Fall
einer 69-jährigen Frau, bei der ein Tumor im Bauchraum ope-
rativ entfernt und dem pathologischen Institut in Greifswald
zur weiteren Untersuchung übergeben wurde. Sie erhielt mit
„magna cum laude“ eine herausragend gute Benotung, denn
1906 vergab Grawitz diese Note nur ein einziges Mal. Nach
ihrer Promotion kehrte Roegner in ihre schlesische Heimat
zurück. Bereits drei Tage vor Ausstellung ihrer Promotions-
urkunde arbeitete sie als Assistenzärztin in Lublinitz in Ober-
schlesien an der dortigen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.
Sie war vor allem auf dem Gebiet der Nervenheilkunde tätig,
arbeitete einige Jahre an Provinzial-Irrenanstalten und einem
Sanatorium und später neun Jahre lang als Badeärztin in Lan-
deck. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste sie
allerdings ihre Arbeit unterbrechen und leitete einige Mona-
te lang ein Verwundeten- und ein Seuchenlazarett. Aufgrund
einer schweren Erkrankung gab sie ihre Praxis in Landeck auf,
zog in den Kurort Schreiberhau in Niederschlesien. Dort eröff-
nete sie im Juni 1919 ein Sanatorium für „minderbemittelte
Frauen gebildeter Stände“ nebst einem dazugehörigen Ver-
ein. Dies kann als ihr bedeutendstes Lebenswerk angesehen
werden. Der angegriffene Gesundheitszustand Roegners ver-
schlechterte sich so stark, dass sie schließlich „in einem trau-
rigen Notquartier in schwerer wirtschaftlicher Notlage“ am 7.
März 1923, im Alter von 49 Jahren starb.
Michael Hamedinger/Hartmut Bettin
Quellen und Literatur sind bei den Autoren erhältlich.
Bildquelle: postcards.hungaricana.hu/hu/48208/
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