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UMG
live
4|2013
frohes fest!
Das Wintersonnenmärchen
Eine Weihnachtsgeschichte darf in der Dezemberausgabe der UMG
live
nicht fehlen. Dieses Mal haben
wir eine für Sie ausgesucht, die nicht als traditionelles Weihnachtsmärchen zu verstehen ist, sondern
die Magie dieser Zeit beschreibt.
G
estern in der Dämmerung vernahm ich hinter den winter-
 lichen Nebelhüllen ein Licht und ein Klingen. Es war wie
ein blinzelnder Stern, ein verirrter Klang ...
Denn nun beginnt ja schon die große, heilige Dichtung, die
die Leute „Weihnachten“ nennen.
[...] Es ist schon eine hübsche Zeit her, dass ich in erster Frühe aus
dem Schlafe geweckt wurde durch ein eifriges und andauerndes
Geplapper. Das Geplapper kam aus der Schlafstube der Kinder.
Es war noch ganz dunkel. Ich horchte.
„Sechsundsechzigmal!“
„Nein, siebenundsechzig! Sieh mal: Heut ist der achtzehnte, nicht?
Bleiben also noch dreizehn Tage.“
„Zwölf!“
„Ach Junge! Oktober hat doch einunddreißig!“
„Na ja: dreizehn.“
„Und November hat dreißig, macht dreiundvierzig und dann
noch vierundzwanzig vom Dezember, macht siebenundsechzig.
noch siebenundsechzigmal schlafen, dann ist Weihnachten.“
„Hm ...“
So früh schon vernehmen die Kinder aus dem Winterdunkel das
ferne Schimmern und Singen ...
Und dann ziehen sie jeden Morgen eins ab: jetzt noch sechsund-
sechzigmal schlafen ... jetzt noch fünfundsechzigmal.
Ganz so früh fängt für mich das Weihnachtslied nicht an. Aber
doch schon früh. Der erste hergewehte Hauch eines nahenden
Gesanges ist so schön in seiner geheimen Ahnungsfülle!
Man entfesselt bei Tisch oder Dämmerung oder nachmittags,
wenn man sich zu kurzer Ruhe aufs Faulbett gestreckt hat, ein
Weihnachtsgespräch unter den Kindern. Mein Neunjähriger er-
zählt aus der Schule. Der Lehrer hat gesagt: „Wenn ihr nicht flei-
ßig seid, kriegt ihr nichts vom Weihnachtsmann.“ Da haben die
Jungen gelacht und gerufen: „Es gibt ja gar keinen Weihnachts-
mann!“ Da hat der Lehrer gesagt: „Soo? – Wer glaubt, dass es ei-
nen Weihnachtsmann gibt?“ Da hat ein einziger Junge den Finger
gezeigt: meiner. Und da haben die anderen ihn ausgelacht.
Diese Schande! Gerade mein Sohn, der Sohn eines Menschen,
der mit hartnäckiger Bosheit für „unbeschränkte Aufklärung“
eintritt – gerade der muss der einzige Gläubige sein in einer
christlichen Schulklasse! Komm, Junge, ich muss dir die frommen
Augen küssen; ich habe dich grenzenlos lieb in deiner einsamen
Schande! So lange ihr lebt, Kinder, soll es in eurer Seele blühen,
und aus jedem verwelkten Glauben soll euch ein neuer keimen!
Das ist mein Segen. Nur wenn man euch zwingen will zum Glau-
ben, durch Kerkerstrafen oder Höllenpein, dann sollt ihr lachen,
lachen aus voller Brust und beide Fäuste schütteln, zum Zeichen,
dass ihr nötigenfalls bereit seid, sie zu brauchen! Auch ihr Mädels!
Dass ihr mir nicht feige duckt, wenn euch einer sagt: „Ihr müsst
an den Weihnachtsmann glauben, sonst leuchtet euch kein
Tannenbaum!“
Wir haben immer unsere stille Freude an einem Experiment, mei-
ne Frau und ich. So um den September und Oktober herum sind
die älteren unter den Kindern auch noch fest überzeugt, dass der
Weihnachtsmann nirgends anders existiert als im Portemonnaie
des liebenswürdigen Vaters. Natürlich genießen sie voll Glau-
bensfreiheit. Nur gelegentlich fällt ein Wort, dass man den Knecht
Ruprecht auf der Straße getroffen, sich längere Zeit mit ihm über
die diesjährige Tannen- und Puppenernte unterhalten habe, dass
gestern Abend sein rauhaariger Kopf hinter den Eisblumen des
Fensters aufgetaucht sei ...
Im November etwa werden die rationalistischen Überzeugungen
schwankend; die Nachrichten vom Weihnachtsmann werden
mit einem merkwürdigen Schweigen aufgenommen. Wenn man
ganz heimlich um den Lampenschirm herumschaut, dann sieht
man große, stille Augen mit nachdenklichem Blick in die Fer-
ne gerichtet. In einem Augenblick der Stille hört man ein tiefes
Atmen.
Im Dezember erfolgt dann die Kapitulation. Man nimmt den
Glauben an den allein selig machenden Weihnachtsmann an und
entsagt dem heidnischen Glauben an das Portemonnaie. Wer
jetzt noch Zweifel äußert, wird von den anderen schon entrüstet
zurechtgewiesen. Tout comme chez nous. Wenn dann der heili-
ge Abend da ist und man hinter der Tür mit grässlich verstellter
Stimme fragt: „Seid ihr denn auch artig gewesen?“ – dann kann
es allerdings geschehen, dass gerade das Jüngste mit pietätloser
Unschuld antwortet: „Ja, Papa!“ Den anderen sagt ein sicherer
Instinkt, dass zu viel Gehör in diesem Augenblick inopportun
wäre, dass ein stillschweigendes sacrifizio dell' intelletto genau
so aussieht wie Frömmigkeit usw. Nachher freilich, wenn sie ihre
Geschenke weg haben und der dunkle Tannenbaum seine golde-
nen Augen aufgeschlagen hat, dann schreien sie. „Ätsch, ich hab
wohl gehört, dass du es warst, Papa, du hast so tief gesprochen:
Wuwuwuwu ...“ Dann sind sie frech, dann ist die ganze Bande
wieder ungläubig.
Die Kleinen erinnern einen halt so oft an die Großen. Wozu sollte
man ihnen auch durchaus den Weihnachtsmann aufnötigen; es
gibt ja so viel andere schöne Götter!
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